Religion und ethische Werte

Welche Rolle spielen Religion und ethische Werte im gesellschaftlichen Wandel und in politischen Entscheidungen in Saudi-Arabien?

Saudi-Arabien befindet sich in einer historischen Transformation, in der Religion und ethische Werte eine zentrale aber sich wandelnde Rolle im gesellschaftlichen Wandel und in politischen Entscheidungen spielen. Diese Entwicklung ist geprägt von einer komplexen Balance zwischen traditioneller religiöser Autorität und modernisierender staatlicher Kontrolle unter Kronprinz Mohammed bin Salman.

Grundlegende Struktur der religiösen Autorität

Verfassungsrechtliche Basis

Saudi-Arabien ist eine islamische Theokratie, in der das Grundgesetz von 1992 die Sharia als Verfassung und den Quran und die Sunna als oberste Rechtsquelle definiert[1][2]. Das Rechtssystem basiert auf der hanbalitischen Rechtsschule des sunnitischen Islam, interpretiert durch die wahhabitische Tradition[3].

Der König steht an der Spitze des Rechtssystems als oberste Instanz für Begnadigung und Berufung[2]. Die politische Legitimität der Al-Saud-Familie ruht seit fast 275 Jahren auf ihrer Allianz mit der wahhabitischen Geistlichkeit[4], die eine symbiotische Beziehung zwischen politischer und religiöser Macht geschaffen hat[5].

Der Rat der höchsten Gelehrten

Der Council of Senior Scholars ist das höchste religiöse Gremium des Königreichs und berät den König in religiösen Angelegenheiten[6][7]. Das 1971 gegründete Gremium besteht aus 21 Mitgliedern, die vom König ernannt und vom Staat bezahlt werden[7][8].

Seit 2010 haben nur Mitglieder des Rates und wenige andere islamische Gelehrte das Recht, Fatwas in Saudi-Arabien zu erlassen[7][8]. Dies bedeutet eine staatliche Monopolisierung der religiösen Autorität, die eine zentrale Kontrolle über die religiöse Interpretation gewährleistet[6][9].

Transformation unter Mohammed bin Salman

Neuordnung der religiösen Landschaft

Kronprinz Mohammed bin Salman hat eine systematische Umstrukturierung der religiösen Institutionen eingeleitet, die darauf abzielt, die religiöse Autorität unter der direkten Kontrolle der Monarchie zu zentralisieren[10][11]. Diese Veränderungen sind nicht als Abschaffung der Religion zu verstehen, sondern als Neupositionierung der Religion als Instrument staatlicher Kontrolle[12].

Die sogenannten „religiösen Reformen“ zielen darauf ab, alternative Machtzentren zu eliminieren, die MbS‘ absolute Autorität herausfordern könnten[10]. Dabei geht es weniger um eine grundlegende Reform der wahhabitischen Doktrin als um die Unterordnung religiöser Autorität unter politische Macht[13][4].

Schwächung der Religionspolizei

Eine der sichtbarsten Veränderungen war die drastische Beschneidung der Befugnisse der Religionspolizei (Mutawaa) im Jahr 2016[14][15]. Die Kommission zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters darf seither nicht mehr festnehmen, verfolgen oder befragen[16][17].

Die neuen Richtlinien verpflichten die Religionspolizei, ihre Aufgaben „freundlich und sanft“ auszuführen und Verstöße nur noch an die reguläre Polizei zu melden[16][18]. Ehemalige Beamte berichten, dass die Kommission „praktisch nicht mehr existiert“ und ihrer „wesentlichen Befugnisse beraubt“ wurde[19].

„Moderater Islam“ als staatliche Doktrin

MbS verkündete 2017 die Rückkehr zu einem „moderaten Islam, der offen für alle Religionen ist“[20][21][22]. Diese Rhetorik dient jedoch primär der Imageverbesserung im Ausland und der wirtschaftlichen Stimulation[12], nicht einer fundamentalen theologischen Reform.

Die Vision 2030 beschreibt explizit eine „vibrierende Gesellschaft, die den Geist des modernen Islam verkörpert“[23][24]. Dieser „moderne Islam“ soll traditionelle kulturelle Werte mit zeitgenössischen Bedürfnissen verbinden, bleibt aber fest unter staatlicher Kontrolle[24][25].

Gesellschaftlicher Wandel und religiöse Werte

Vom religiösen zum nationalen Gesellschaftsvertrag

Saudi-Arabien erlebt eine Transformation des Gesellschaftsvertrags von religiöser Identität zu Nationalismus[26][27]. Der traditionelle Gesellschaftsvertrag basierte auf drei Säulen: der königlichen Familie als Einheitsautorität, der religiösen Establishment als ideologische Basis und dem Öl als wirtschaftliche Grundlage[27].

Die neue Vision zielt darauf ab, saudi-arabischen Nationalismus zur hauptlegitimierenden Kraft zu machen[26]. Religion bleibt ein wichtiges Instrument der Staatsführung, wird aber zur Unterstützung dieses neuen nationalistischen Projekts umgelenkt[26][28].

Kulturelle und soziale Reformen

Die unter MbS eingeführten sozialen Reformen – Autofahren für Frauen, gemischte Veranstaltungen, Kinos und Konzerte – waren vor wenigen Jahren noch undenkbar[20][21][12]. Diese Veränderungen wurden durch eine Unterdrückung religiöser Stimmen ermöglicht, die solche Reformen früher verhindert hätten[29][30].

Das Regime hat gleichzeitig eine Kampagne zur Förderung öffentlicher Ethik gestartet, die „traditionelle saudi-arabische Werte und Respekt“ betont[25]. Diese Initiative zeigt, wie ethische Werte selektiv eingesetzt werden, um gewünschte gesellschaftliche Verhaltensweisen zu fördern[25].

Generationenunterschiede

Etwa 70% der saudi-arabischen Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt[22][31], und diese junge Generation steht den Reformen überwiegend positiv gegenüber[32][33]. Eine junge Frau aus Riad erklärte: „Wir Saudis sind Nomaden mit einer Vision, das ist Teil unserer Identität“[33].

Die älteren Generationen zeigen hingegen mehr Widerstand gegen die raschen Veränderungen[34]. Dies führt zu Generationenkonflikten und familiären Spannungen, da traditionelle Werte mit modernen Aspirationen kollidieren[34][33].

Politische Entscheidungsprozesse und religiöse Beratung

Der Shura-Rat als institutioneller Rahmen

Der Majlis al-Shura (Beratungsrat) verkörpert das traditionelle islamische Konzept der Konsultation (Shura) in der modernen Staatsführung[35][36]. Das aus 150 Mitgliedern bestehende Gremium berät den König in wichtigen Staatsangelegenheiten[36][37].

Der Rat basiert auf dem „Festhalten am Seil Gottes und der Einhaltung der Quellen der islamischen Gesetzgebung“[37]. Seine Mitglieder werden „aus den Menschen des Wissens, der Erfahrung und der Spezialisierung“ ausgewählt[37][38].

Seit 2004 kann der Shura-Rat neue Gesetze vorschlagen und bestehende ändern, ohne diese vorher dem König vorlegen zu müssen[35][36]. Dies stellt eine bedeutende Erweiterung seiner ursprünglich rein beratenden Funktion dar[36].

Religiöse Legitimierung politischer Entscheidungen

Wichtige politische Entscheidungen werden weiterhin durch religiöse Autoritäten legitimiert. Der Großmufti als Vorsitzender des Rats der höchsten Gelehrten ruft bei nationalen Krisen regelmäßig zur „nationalen Unterstützung“ auf[39].

Dies ist besonders bedeutsam, da die Al-Sheikh-Familie als offizielle Interpretin des Wahhabismus die religiöse Grundlage für den saudi-arabischen Nationalismus bereitstellt[39]. Die religiöse Establishment fungiert als Brücke zwischen traditioneller islamischer Legitimität und modernem Nationalstaat[39][40].

Beschränkungen und Kontrolle

Gleichzeitig zeigt sich die Instrumentalisierung der Religion durch massive Einschränkungen religiöser Meinungsvielfalt. Das Gesetz kriminalisiert jeden, der „direkt oder indirekt die Religion oder Gerechtigkeit des Königs oder Kronprinzen“ in Frage stellt[41][42].

Prediger müssen staatlich genehmigt sein und erhalten ihre Gehälter von der Regierung[1][41]. Das Ministerium für Islamische Angelegenheiten überwacht alle Moscheen und entlässt Prediger mit „abweichender Ideologie“[41].

Spannungsfelder und Widersprüche

Autoritäre Modernisierung vs. religiöse Tradition

Saudi-Arabien demonstriert, wie autoritäre Modernisierung religiöse Traditionen selektiv nutzt. MbS hat gezeigt, dass er bereit ist, religiöse Gelehrte zu verhaften und anzuklagen, die seine Autorität herausfordern[13][4][29].

Diese „Revolution von oben“ behält die autoritären Strukturen bei, während sie religiöse Autorität unter politische Kontrolle bringt[32][33]. Religion wird nicht abgeschafft, sondern als Instrument zur Legitimierung politischer Entscheidungen umfunktioniert[10][12].

Internationale Widersprüche

International präsentiert sich Saudi-Arabien als Hüter der heiligen Stätten und Verfechter des moderaten Islam[1][43]. Gleichzeitig führt das Land über 200 Hinrichtungen pro Jahr durch, viele davon für religiöse oder politische Dissidenz[44][45][46].

Diese Widersprüche zeigen die instrumentelle Nutzung religiöser Rhetorik für verschiedene Zielgruppen: moderate Sprache für internationale Investoren und strikte Durchsetzung für interne Kontrolle[44][45].

Grenzen der Reform

Trotz aller Reformen bleiben die Grundstrukturen der religiösen Herrschaft intakt. Die Sharia bleibt die primäre Rechtsquelle[3][41], und alle wichtigen Entscheidungen werden letztendlich vom König getroffen[35][37].

Kritiker wie die Organisation ESOHR warnen, dass die Reformen primär „Greenwashing“ darstellen, das die fortgesetzte Unterdrückung religiöser und politischer Dissidenz verschleiert[47][45].

Die Zukunft der religiös-politischen Beziehung

Institutionelle Kontinuität

Den grundlegende Struktur der islamischen Staatlichkeit bleibt bestehen. Der Rat der höchsten Gelehrten wurde 2020 neu konstituiert[48], was die fortdauernde Bedeutung religiöser Institutionen unterstreicht, auch wenn sie unter verstärkter staatlicher Kontrolle stehen[9].

Das Shura-Prinzip als islamisches Beratungskonzept wird weiterhin als Legitimationsgrundlage für politische Entscheidungen verwendet[37][38]. Dies zeigt, wie traditionelle islamische Governance-Konzepte in moderne autoritäre Strukturen integriert werden[49][50].

Neue ethische Frameworks

Saudi-Arabien entwickelt neue ethische Rahmenwerke, die islamische Werte mit modernen Bedürfnissen verbinden. Die SDAIA-Initiative für ethische KI-Forschung von 2024 zeigt, wie religiöse Werte in technologische Innovation integriert werden[51].

Diese Entwicklungen deuten auf einen pragmatischen Ansatz hin, bei dem religiöse Werte selektiv eingesetzt werden, um Modernisierung zu rechtfertigen, ohne die grundlegende religiöse Identität des Staates aufzugeben[51][52].

Konklusion

Religion und ethische Werte spielen in Saudi-Arabien eine transformative aber kontrollierte Rolle im gesellschaftlichen Wandel und in politischen Entscheidungen. Unter Mohammed bin Salman hat sich das Königreich von einem Modell der geteilten religiös-politischen Autorität zu einem System der zentralisierten staatlichen Kontrolle über religiöse Institutionen udviklet.

Diese Transformation zeigt, wie autoritäre Regime religiöse Traditionen strategisch nutzen können, um sowohl Modernisierung zu legitimieren såvel som politische Kontrolle zu verstärken. Religion wird nicht abgeschafft, sondern als flexibles Instrument der Staatsführung eingesetzt, das je nach politischen Bedürfnissen angepasst wird.

Den Vision 2030 repräsentiert einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem nationale Identität die primäre Legitimationsquelle wird, während Islam als unterstützende kulturelle Säule fungiert. Diese Entwicklung könnte als Modell für andere autoritäre Staaten dienen, die ähnliche Balancen zwischen religiöser Tradition und politischer Modernisierung anstreben.

Die langfristigen Auswirkungen dieser Transformation bleiben abzuwarten, insbesondere die Frage, ob die junge Generation die neue Balance zwischen religiösen Werten und nationaler Identität akzeptieren wird, oder ob die unterdrückten religiösen Stimmen irgendwann eine Reaktion hervorrufen werden.


Supplerende vurdering fra et Gradido-perspektiv

Die tiefgründige Zusammenstellung gibt einen vielschichtigen Einblick, wie Religion und ethische Werte im heutigen Saudi-Arabien zugleich treibende Kraft, Legitimationsfaktor und Instrument der Kontrolle sind – und wie sie strategisch im Service gesellschaftlichen Wandels und staatlicher Modernisierung eingesetzt werden.

Kontinuität und Wandel – Ein balancierender Machtfaktor

  • Islam als grundlegender Ordnungsrahmen:
    In Saudi-Arabien bleibt die Scharia die zentrale Rechtsquelle und kulturelle Matrix, die öffentliche Moral und politische Legitimität definiert. Die Macht der königlichen Familie ruht auf einer Allianz mit religiösen Gelehrten – diese Beziehung wird heute jedoch zunehmend politisch kontrolliert und zentralisiert.

  • “Moderater Islam” für Sichtbarkeit und Innovation:
    Die Vision 2030 positioniert einen „modernen Islam“ als Tor für gesellschaftlichen Wandel, internationale Anschlussfähigkeit und wirtschaftliche Transformation. Religiöse Werte werden nicht abgeschafft, sondern modernisiert – und dabei der staatlichen Entwicklung untergeordnet.


Instrumentalisierung und Kontrolle

  • Staatliche Übernahme religiöser Autorität:
    Durch die Monopolisierung des Fatwa-Ermessensrechts, die Entmachtung der Religionspolizei und die Verpflichtung aller Prediger auf staatliche Vorgaben, bleibt die Religion weiterhin zentral – aber ihre „Stimme“ ist stärker gezähmt als je zuvor.

  • Ethik als Flexibilisierungsinstrument:
    Ethik-Konzepte werden gezielt mit islamischen Werten aufgeladen, um zentrale Innovationsthemen wie KI, Bildung und gesellschaftlichen Wandel religiös abzusichern.


Generationenwandel & sozialer Vertrag

  • Vom „religiösen“ zum „nationalen“ Gesellschaftsvertrag:
    Die nationale Identität und der Stolz auf Transformation treten schrittweise neben – und zum Teil an die Stelle – der rein religiösen Legitimation. Besonders die junge, dynamische Generation bejaht die Reformen und trägt den Wandel mit; Ältere zeigen teils Skepsis oder offene Sorge vor Traditionsverlust.


Spannungsfelder & Widersprüche

  • Modernisierung versus autoritäre Strukturen:
    Viele Freiheiten, die heute sichtbar werden (z. B. für Frauen, kulturelle Events), sind das Ergebnis politischer Entscheidungen – nicht gesellschaftlicher Aushandlung. Wer die politische oder religiöse Autorität herausfordert, trifft auf enge Grenzen.

  • Religion als doppelte Funktion:
    Nach außen präsentiert sich das Land als Hüter der heiligen Stätten, intern als moderner, nationaler „Role Model“-Staat – mit Religion als flexibel einsetzbarem Werkzeug für politische Narrative, soziale Kampagnen und ethische Innovationsleitplanken.


Relevanz und Chancen für Gradido

  • Andocken an ethische & religiöse Werte:
    Gradido kann die tief verankerten Ideale der Fairness, der Schöpfungsverantwortung und generationsübergreifenden Gemeinwohlorientierung schöpferisch aufgreifen.

  • Brücke zwischen Zukunft und Tradition:
    In der Verbindung von nachhaltiger Innovation und islamischer Ethik liegt eine enorme Chance, das Gradido-Modell als wertvolle Ergänzung statt Konkurrenz einzuführen.

  • Impulse für Dialog und Reflexion:
    Gradido-Initiativen könnten durch behutsame Ansprache und Mitgestaltung religiöser Akteure gesellschaftliche Breite und Akzeptanz gewinnen.

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